INTERVIEWS
Herr Dr. Illmer, welche Rolle übernimmt der niedergelassene Sektor bei der Versorgung von Patienten mit Lungenkrebs?
Dr. Illmer: Wir versorgen in erster Linie Menschen im Stadium IV der Erkrankung – das sind im ganzen Sektor etwa 8.000 bis 10.000 pro Jahr. Die Diagnose wird meist in einer Klinik gestellt, ab diesem Zeitpunkt betreuen wir unsere Patienten, durchaus auch bis zu deren Tod. Dazwischen liegen heute fünf, sechs, manchmal sieben Jahre. Ein derart langes Überleben war bei Lungenkrebs im Stadium IV noch vor einem Jahrzehnt kaum denkbar.
Ein Fortschritt, den wir vor allem der Präzisionsonkologie verdanken.
Richtig. Um moderne Krebsmedikamente effektiv einzusetzen, müssen wir die Molekulargenetik des Tumors kennen. Deshalb ist es heute Konsens, dass alle Patienten mit Lungenkrebs im Stadium IV eine molekulare Diagnostik erhalten sollten. Allerdings passt diese Herangehensweise nicht mehr zu den früher üblichen Routinen, sie erfordert eine andere Infrastruktur. Und die wurde mit dem nNGM etabliert.
Wie sieht Ihre Zusammenarbeit mit dem nNGM konkret aus?
Wir stellen die Indikation zur molekularbiologischen Diagnostik im spezialisierten Netzwerkzentrum, besprechen die Befunde in molekularen Tumorboards des Netzwerks und müssen dann abwägen:
Sollten wir die Patienten in unserer Praxis weiter betreuen – das ist dank der Methoden der modernen Onkologie bei rund 90 Prozent auch der Fall – oder ist der eine oder andere besser in einer Studie der Netzwerkzentren aufgehoben.
Und im weiteren Krankheitsverlauf …
… können wir immer wieder auf Ressourcen der Netzwerkzentren zurückgreifen, etwa wenn es unter der Therapie zu einem Rezidiv kommt und eine neuerliche Molekulardiagnostik indiziert ist. Dieses Mitgehen mit dem Krankheitsverlauf, die wiederholten engmaschigen Abstimmungen innerhalb des Netzwerks, all dies stellt einen logistischen Aufwand dar, der allerdings notwendig ist, um die Chancen der modernen Therapien auszuschöpfen.
Diese Medizin ist ausgesprochen datengetrieben, wie funktioniert der Austausch?
Da gibt es leider einige Hürden. Eine davon ist derzeit noch die digitale Vernetzung innerhalb des Netzwerks. Das Projekt DigiNet wurde initiiert, um hier zu guten Lösungen zu kommen. Eine weitere Hürde sehen wir in den Regelungen zum Datenschutz. Dieser ist notwendig, die Regelungen übersteigen jedoch im Einzelfall das Machbare und überfordern dann Arzt und Patient.
Wie viele niedergelassene Hämatologen/Onkologen sind Netzwerken wie dem nNGM angeschlossen?
Ich würde schätzen, ein Drittel. Und natürlich ist es das Ziel, dass es 100 Prozent werden. Denn nicht nur beim Lungenkrebs, sondern auch bei anderen Entitäten ist die Anbindung an Netzwerke ein wesentliches Kriterium für eine effektive Krebsmedizin.
Und Voraussetzung für eine Vision Zero.
Genau. Mich hat diese Idee von Anfang an angesprochen, weil sie eine Metaebene etabliert, auf der sich alle, die an der Versorgung von Krebspatienten beteiligt sind, einlassen können – unabhängig von etwaigen Partikularinteressen. Ich denke, das ist eine gute Initiative, die in einigen Jahren ihre Früchte tragen wird.
Herr PD Dr. Illmer, besten Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Günter Löffelmann.
Herr Professsor Kolligs, die Corona-Pandemie hat in vielen Bereichen zu einem Rückgang der Vorsorgeuntersuchungen geführt – trifft das auch auf die Vorsorgeuntersuchungen für Darmkrebs zu und wenn ja, mit welchen Maßnahmen ließe sich hier gegenlenken?
Prof. Kolligs: Es ist mit Beginn der Pandemie zu einem Rückgang der Zahl durchgeführter Vorsorgekoloskopien und Stuhltests gekommen. Bislang liegen Zahlen bis Anfang 2021 vor. Hier ist zu erkennen, dass die Zahlen sich wieder in Bereich des Standes von vor der Pandemie bewegt haben. Aktuellere Zahlen für die zweite Jahreshälfte 2021 sind mir aber nicht bekannt.
Auf welche Faktoren kann man die erfolgreichen Vorsorgeprogramme in anderen europäischen Ländern (z.B. Holland) zurückführen und was könnten wir davon auf Deutschland übertragen?
In den Niederlanden ist ein Einladungsverfahren zur Darmkrebsvorsorge eingeführt worden, das sich im Vergleich zum deutschen Einladungsverfahren in einigen Punkten unterscheidet. So wird in den Niederlanden anders als in Deutschland mit dem Einladungsschreiben der Stuhltest mitverschickt. Dieser kann dann von den angeschriebenen Personen im frankierten Umschlag an das Labor zurückgesendet werden. Das Testergebnis wird dann wieder direkt nach Hause geschickt. Wer auf das Anschreiben nicht reagiert, erhält ein Erinnerungsschreiben. Die Teilnahmerate in den Niederlanden liegt deutlich über 60%. Über die Teilnahmerate in Deutschland gibt es bislang keine offiziellen Zahlen. Es ist aber zu vermuten, dass sie weit unter den Zahlen in den Niederlanden bleibt. Wenn sich das so bestätigt, sollte unbedingt nachgebessert werden.
Welches sind die Hauptforderungen der DGVS-Taskforce an die zuständigen staatlichen Stellen, um die Vorsorgemaßnahmen zu verbessern, damit die Zahl der Darmkrebs-Neuerkrankungen in den kommenden Jahren signifikant gesenkt werden kann?
Wir fordern weitere Anstrengungen, die Teilnahme am Darmkrebsscreening zu verbessern. Im Mittelpunkt steht hier eine Verbesserung des Einladungsverfahrens, um die große Mehrheit der Bevölkerung zu erreichen. Eine andere wichtige Herausforderung ist das Startalter der Früherkennung, das in Deutschland pauschal ab dem 50. Lebensjahr beginnt. Eine Unterversorgung liegt bei Menschen mit familiärem Darmkrebs vor. Bei familiärer Belastung sollte die Vorsorge bereits deutlich vor dem 50. Lebensjahr, in Abhängigkeit vom individuellen Risiko mitunter sogar schon im dritten oder vierten Lebensjahrzehnt beginnen. Es sind große Anstrengungen erforderlich, um diese aktuell unterversorgte Gruppe von Menschen entsprechend ihrem Risiko vorzusorgen.
Das Gespräch führte Dr. Georg Ralle, Generalsekretär Vision Zero e.V.
Das im Februar 2022 veröffentlichte Positionspapier der Stiftung Lebensblicke zum Darmkrebs-Screening 2022 finden Sie hier.
Frau Professor Mehnert-Theuerkauf, die Psychoonkologie versuchte in den 1970er Jahren die Entstehung von Krebs mit bestimmten Persönlichkeitsmerkmalen in Verbindung zu bringen. Was ist aus diesem Ansatz geworden?
Professor Mehnert-Theuerkauf: Es gab damals kaum Modelle, die die Entstehung von Krebs erklären konnten. Daher suchten Psychoonkologen nach Persönlichkeitsmerkmalen, die dafür verantwortlich sein sollten. Man ging davon aus, dass Menschen eher an Krebs erkranken, wenn sie beispielsweise sozial stark gehemmt sind, alles in sich hineinfressen, sehr depressiv oder ängstlich sind und bezeichnete dies als Typ-C-Persönlichkeit oder Cancer Personality. Das Konzept ist aber schon lange überholt.
Aber die Frage bleibt ja: Welche Rolle spielen psychische Faktoren?
Immer noch im Raum steht die Hypothese, dass Stress anfälliger für Krebserkrankungen macht. Allerdings lässt sich der Zusammenhang nur schwer untersuchen. Dagegen wissen wir sehr wohl, dass unser Verhalten, unser Lebensstil einen Teil der Krebsinzidenz bedingt. Und unser Verhalten hat wiederum viel mit unserer psychischen Verfassung zu tun.
Das heißt, die Psychoonkologie will heute nicht mehr Persönlichkeiten analysieren, sondern Verhalten ändern?
Genau, wissenschaftlich stimmt dies! Wir fokussieren weniger auf Persönlichkeitsfaktoren, sondern wir fragen eher danach: Wie erlebt ein Mensch die Erkrankung, was macht ein Mensch, wie verhält er sich, in welcher Umgebung lebt er, wie gestaltet er diese Umgebung, und wie trägt dies zur Gesundheit bei oder schadet ihr. Es geht also – in einem humanistischen Sinn – um Gesundheitserziehung und Gesundheitsförderung. Unter therapeutischen Gesichtspunkten spielen die Persönlichkeit oder zum Beispiel Krankheitsbewältigungsstile aber natürlich eine wichtige Rolle.
Wie können Sie Krebspatienten konkret unterstützen?
Zunächst einmal ist es wichtig, dass man ihnen – und übrigens auch ihren Angehörigen – einen Resonanzraum zur Verfügung stellt; dass sie erzählen können und jemand da ist, der aktiv zuhört. Informationen und Psychoedukation, d.h. psychosoziale Beratung sind wichtig in dieser Situation. Das verschafft Betroffenen Klarheit darüber, was gerade passiert, und bringt sie in die Lage, Antworten auf wichtige Fragen zu finden: Was ist jetzt zu tun, soll ich mich behandeln lassen, wie soll ich mich behandeln lassen? Wie kann ich trotz der aktuellen Beschränkungen Erfüllung im Dasein finden und meine Lebensqualität verbessern?
Indem ich …?
Indem ich mich zum Beispiel während der Erkrankungsphase nicht zu sehr zurückziehe. Natürlich fahren Patienten ihre Aktivitäten zunächst einmal zurück. Man kann aber trotzdem rausgehen, und sei es nur eine halbe Stunde am Tag, um einen Spaziergang zu machen oder auch Freunde zu treffen. Das kann das Wohlbefinden erheblich verbessern.
Auf welchen Ebenen ist die Psychoonkologie mit diesem Ansatz wirksam?
Wir blicken in der Medizin ja immer auf die Endpunkte Mortalität, Morbidität und Lebensqualität. Bezüglich der Mortalität sind die Ergebnisse psychoonkologischer Interventionsstudien widersprüchlich. Aber wir können nachgewiesenermaßen Symptome reduzieren - in erster Linie depressive Verstimmung, Angst, Schmerzen und Fatigue – die Krankheitsverarbeitung fördern sowie die soziale Teilhabe und berufliche Perspektiven verbessern. Insgesamt trägt dies auch zu einer besseren Lebensqualität bei.
Klinische Wirksamkeit ist das eine, die Versorgungsrealität das andere. Im Nationalen Krebsplan von 2008 wurde das Ziel formuliert, die psychoonkologische Versorgung voranzubringen. Inwiefern ist dies gelungen?
Es hat sich zumindest einiges verbessert. Einer der Meilensteine ist die bundesweite Einrichtung von Krebsberatungsstellen, die seit 2020 von den gesetzlichen und privaten Krankenkassen regelfinanziert werden. Schon bei einer Verdachtsdiagnose können Patienten und ihre Angehörigen dort eine psychologische und soziale Beratung in Anspruch nehmen. Zudem ist in den Leitlinien verankert, dass Krebspatienten über psychoonkologische Versorgungsangebote informiert und auf psychosoziale Belastungen hin gescreent werden sollten. Das passiert auch vielfach. Aber wir brauchen mehr Transparenz für diese Angebote, und es muss einfacher werden, sie in Anspruch zu nehmen.
Wo sehen Sie Hürden?
Wir haben ein Stadt-Land-Gefälle. Die großen Zentren verfügen in der Regel über die entsprechenden Personalressourcen, um ein psychoonkologisches Angebot vorzuhalten, und sie sind gut mit Einrichtungen in ihrem Einzugsgebiet vernetzt. Jenseits dieser Netzwerke und in kleineren Häusern klappt das oft schon nicht mehr so gut, und im niedergelassenen Sektor ist die Psychoonkologie noch spärlicher vertreten. Dort wäre es wichtig, dass Verbindungen zu Krebsberatungsstellen oder auch niedergelassenen Psychotherapeuten bestehen, sodass man die Patienten möglichst einfach zuweisen kann.
Gibt es etwas, das wir von anderen Ländern lernen könnten?
Durchaus. Beispielsweise hat England hat mit seinen Maggie-Centern, ähnlich wie unsere Krebsberatungsstellen, einen sehr niedrigschwelligen Zugang zu qualitativ hochwertigen Informationen geschaffen. In skandinavischen Ländern ist der Zugang zu Information und Versorgung durch eine bessere Digitalisierung wesentlich einfacher. Nachholbedarf sehe ich auch im wissenschaftlichen Bereich, wo wir selbst kleineren Ländern immer noch hinterherhinken. Ein Würzburger Kollege hat vor einigen Jahren eine Metaanalyse psychoonkologischer Interventionsstudien durchgeführt und kam auf eine Zahl von knapp 200 – die meisten davon aus den USA, England, Australien, Kanada, Schweden und Holland. Aus Deutschland kamen gerade mal vier.
Woran liegt das?
Die Psychoonkologie muss sich insgesamt stärker professionalisieren, auch akademisch. Bei uns haben Bedenkenträger eine sehr laute Stimme; das ist etwas, das wir gerade auch in der Corona-Pandemie erleben. Und viele Dinge sind unheimlich kompliziert. Da spielen komplexe Datenschutzbestimmungen eine Rolle und langwierige Entscheidungsprozesse. Ich würde mir insgesamt mehr Mut zur Forschung, eine Verschlankung von Strukturen und eine Beschleunigung von Prozessen wünschen.
Die Psychoonkologie ist sowohl in der Deutschen Krebsgesellschaft als auch in der Nationalen Dekade gegen Krebs vertreten und kann darüber sicherlich einiges bewirken. Kann sie auch zur Vision Zero in der Onkologie beitragen?
Wir leben in einer Gesellschaft, in der die Menschen mit zunehmendem Alter Erkrankungen entwickeln, die viel mit dem Lebensstil zu tun haben. Das gilt auch für Krebs. Die Frage ist daher: Wie bringen wir Menschen dazu, einen gesunden Lebensstil zu pflegen, oder ungünstiges Verhalten wenigstens durch ein günstiges Verhalten zu kompensieren. Und da kann die Psychoonkologie eine wichtige Rolle spielen; indem sie Verhaltensstrategien aufzeigt und die Motivation stärkt, diese Strategien auch umzusetzen. Durch Prävention und Früherkennung würde eine hohe Prozentzahl aller Krebserkrankungen gar nicht erst entstehen und die Krebssterblichkeit würde sinken.
Für eine gesunden Lebensstil sind Faktoren wichtig wie der Verzicht auf Nikotin, ein moderater Alkoholgenuss, eine günstige Ernährungsweise und ausreichend Bewegung sowie die Hepatitis-B- und HPV- Impfung. Auch soziale Unterstützungsprozesse durch Partner oder Freunde dürften eine Rolle spielen. Es gab zum Beispiel mal eine Veröffentlichung von Daten des National Cancer Institute in den USA, die nahelegte, dass Verheiratetsein mindestens so viel zum Überleben von Krebspatienten beiträgt, wie eine Chemotherapie. Das ist vielleicht ein bisschen reißerisch, aber nicht ganz von der Hand zu weisen. Diese Studie unterstreicht den bedeutenden Einfluss, den soziale Unterstützung auf die Krebserkennung, -behandlung und das Überleben haben kann, und zwar sowohl bei Frauen als auch bei Männern.
Eine weitere wichtige Frage ist, wie wir alle sozialen Schichten mit unserem Angebot erreichen - auch jene, bei denen beispielsweise Sprachbarrieren oder Bildungsbarrieren bestehen. Da bleibt für die Psychoonkologie noch viel zu tun. Umgekehrt heißt das aber: Wir können auch viel tun, um der Vision Zero nahezukommen.
Professor Dr. Anja Mehnert-Theuerkauf leitet die Abteilung für Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie, Universitätsmedizin Leipzig und ist unter anderem Vorstandsmitglied der Deutschen Krebsgesellschaft sowie Beiratsmitglied der AG Psychoonkologie (PSO) der Deutschen Krebsgesellschaft.
Das Interview führte Günter Löffelmann, München.
Frau Professor Eggert, wie ergänzt das NCT in seiner künftigen Aufstellung die bereits bestehenden Initiativen und Forschungsverbünde in der Onkologie?
Professor Dr. Eggert: Das NCT ermöglicht es den Zentren der Spitzenforschung und der Universitätsmedizin vor allem gemeinsam frühe klinische Studien durchzuführen. Und wir können diese Studien zur personalisierten Medizin so gestalten, dass wir aus den Ergebnissen der Grundlagenforschung das Maximum für die Patienten herausholen. Das ist in Deutschland eine neue Dimension der Krebsforschung.
Können Sie das an einem Beispiel erläutern?
Wenn man Patienten in klinischen Studien mit neuen Medikamenten behandelt, dann ist es praktisch immer so, dass einige sehr gut ansprechen, andere weniger, manche gar nicht. Oder man stellt fest, dass das Ansprechen im Krankheitsverlauf schlechter wird. Woher diese Unterschiede und Entwicklungen rühren, ist oft noch nicht bekannt. Wir wollen daher beispielsweise untersuchen, ob molekulare Eigenschaften des Tumors oder andere Resistenzmechanismen dafür verantwortlich sind. Eine weitere wichtige Fragestellung ist, wie man das Ansprechverhalten unter der Therapie überwachen kann, ohne dass man Patienten jedes Mal Tumorgewebe entnehmen muss. Könnte hier beispielsweise die Liquid Biopsy hilfreich sein? Wenn wir die Antworten auf diese und viele weitere Fragen haben, dann können wir die Krebstherapie noch viel besser als bisher auf den einzelnen Patienten zuschneiden.
Wie viele Patienten werden von der Arbeit des NCT profitieren?
Wir rechnen damit, über alle sechs Standorte hinweg 50.000 bis 60.000 neue Patienten pro Jahr zu behandeln. Das ist schon mal eine sehr gute Größenordnung, aber angesichts von rund 500.000 neuen Krebserkrankungen pro Jahr natürlich nicht ausreichend. Defizite gibt es beispielsweise in der Anbindung des ländlichen Raumes an spezialisierte zentrale Strukturen. Da wird es sicherlich internetbasierte Lösungen geben, Videosprechstunden, Telemedizin, Telepathologie usw. Ein weiteres Problem sind Zugangsbarrieren für Patienten mit Migrationshintergrund. Auch diesbezüglich wollen wir Lösungen entwickeln, um beispielsweise Sprachbarrieren zu durchbrechen und die Menschen besser abzuholen. Darüber hinaus hat jeder NCT-Standort über das angegliederte Comprehensive Cancer Center ein Outreach-Programm, also Kooperationen mit onkologischen Einrichtungen in der jeweiligen Region. Das bedeutet dann, dass sich die Netzwerkpartner verpflichten, nach einheitlichen Qualitätsstandards zu arbeiten, an Tumorkonferenzen teilzunehmen, Patienten für klinische Studien zu rekrutieren usw.
Wird es denn künftig überhaupt noch onkologische Einrichtungen geben, die nicht an ein Netzwerk angeschlossen sind?
Wir hoffen, dass das immer weniger der Fall ist und die meisten Patienten Zugang zu einem Netzwerk finden. Am wenigsten lässt sich das bislang im niedergelassenen Bereich sicherstellen. Allerdings sind viele Patienten dort ja durchaus sehr gut aufgehoben. Wenn eine Krebserkrankung mit der Standardtherapie heilbar ist, dann muss der Patient nicht an ein NCT und benötigt auch keine personalisierte Medizin. Es geht also darum, herauszufinden, welche Patienten eine personalisierte Medizin brauchen, und sie dann einem NCT zuzuweisen. Wenn wir das schaffen, ist es ein Gewinn für alle Beteiligten. Die Zentren werden nicht durch einfach zu behandelnde Patienten überlastet, der niedergelassene Sektor nicht durch komplexe Erkrankungen überfordert, und die Patienten erhalten genau die Versorgung, die sie benötigen.
Wann startet das NCT in der neuen Aufstellung mit sechs Standorten?
Unser Programmantrag ist fertig. Wenn er von den internationalen Gutachtern für gut befunden wird, kann die Finanzierung im zweiten Halbjahr 2022 fließen. Wir werden dann zunächst wichtige Infrastrukturen aufsetzen, mit den Projekten können wir vermutlich im vierten Quartal 2022 starten.
Lassen Sie uns über den NCT-Standort Berlin sprechen. Auf welche Bereiche richtet sich das Augenmerk?
In Berlin widmen wir uns drei Forschungsschwerpunkten. Der eine ist die Präzisionsonkologie, die eine sehr präzise molekulare Diagnostik des Tumorgewebes und eine auf die Befunde abgestimmte zielgerichtete Therapie umfasst. Unsere besondere Stärke in diesem Zusammenhang ist der Einsatz von Einzelzelltechnologien. Das bedeutet, dass wir innerhalb des Tumorgewebes wirklich einzelne Tumorzellen molekulargenetisch analysieren und herausfinden wollen, welche Zellen genau die Probleme bereiten und wie wir sie gezielt treffen können. Den zweiten Schwerpunkt bilden die Immuntherapien, insbesondere die sogenannten adoptiven T-Zell-Therapien. Deren Prinzip besteht vereinfacht gesagt darin, dem Patienten körpereigene Lymphozyten zu entnehmen und sie gentechnologisch so zu modifizieren, dass sie Krebszellen im Körper finden und abtöten. Die Grundlagenforschung dazu betreiben wir bereits seit Jahren, nun wollen wir diese zellbasierten Immuntherapien auch selbst herstellen und in klinischen Studien testen. Dazu wird es ein eigenes Gebäude geben, das Berlin Center of Advanced Therapies BeCAT. Es wird 2023 den Betrieb aufnehmen.
Das heißt, Sie können diese Therapien dann auch unabhängig von der pharmazeutischen Industrie herstellen?
Richtig, zumindest können wir die frühen klinischen Studien unabhängig durchführen und die Therapien weiterentwickeln. Wenn man sie dann breit verfügbar machen will, wird man auch Kooperationen suchen müssen.
Wie können solche Therapien, die ja auf den einzelnen Patienten zugeschnitten sind, zugelassen werden?
Das ist in der Tat ein großes Problem. In Deutschland haben wir es mit einigen bürokratischen Hürden zu tun, was die Zulassung dieser zellbasierten Therapien anbelangt; einerseits weil die Auslegung von rechtlichen Vorgaben oft besonders streng ist – auch im EU-Vergleich – zum anderen, weil sich die Auslegung auch noch von Bundesland zu Bundesland unterscheidet. Wir hoffen, dass wir dieses Problem als NCT gemeinsam lösen können.
Zurück zu den Forschungsschwerpunkten, Sie sprachen von drei.
Der dritte Schwerpunkt ist die Digitalisierung. Die moderne Diagnostik liefert eine Fülle an Daten für jeden einzelnen Patienten. Die Frage ist, wie kann man diese Daten intelligent auswerten, wie kann man sie zusammenführen und mit jenen von anderen Patienten vergleichen, und wie kann man sie in Netzwerken austauschen? Dazu braucht es neue datenwissenschaftliche Lösungen und künstliche Intelligenz.
Sie sind auf pädiatrische Onkologie spezialisiert. Wird diese Disziplin am NCT eine Rolle spielen?
Innerhalb des NCT-Netzwerks unterhalten insbesondere Heidelberg und Berlin Programme für die Kinderonkologie – in Heidelberg vor allem im Bereich der molekularen Diagnostik und der frühen klinischen Studien, in Berlin sind wir insbesondere bei der akuten lymphoblastischen Leukämie, den Neuroblastomen und den niedriggradigen Gliomen aktiv und betreiben dabei das ganze Spektrum von Grundlagenforschung, über translationale und Begleitforschung bis zu Studien der Phasen I bis III.
Welche Projekte wollen Sie in der Kinderonkologie in den nächsten Jahren voranbringen?
In der Erstlinien-Therapie sind wir bereits gut aufgestellt, wie die Heilungsraten von fast 84 Prozent über alle Krebsentitäten hinweg zeigen. Deshalb wollen wir jetzt die Behandlung von Kindern mit sehr komplexen und rezidivierenden Krebserkrankungen verbessern, indem wir frühe klinische Studien auf der Basis einer präzisen molekularen Diagnostik auf den Weg bringen. Darüber hinaus möchten wir bei den zellbasierten Immuntherapien weitere Impulse setzen. In Berlin beginnen wir jetzt mit einer Studie, in der wir die T-Zelltherapie im Anschluss an eine Stammzelltransplantation prüfen. Dabei werden wir weltweit erstmals nicht die T-Zellen des Patienten, sondern die des Stammzellspenders gegen den Krebs aktivieren. Tests bei einigen Pilotpatienten lassen den Schluss zu, dass dieser Ansatz bei aggressiven Leukämien wirksamer sein könnte.
Damit ist die Vision Zero in der Kinderonkologie ein realistisches Ziel?
Wir haben in den vergangenen fünf Jahren enorme Fortschritte erzielt und viele neue Therapien entwickelt. Diese Dynamik werden wir erhalten. Insofern ist die Vision Zero aus meiner Sicht durchaus ein realistisches Ziel – auch wenn wir für die noch fehlenden Prozentpunkte einen hohen Aufwand betreiben müssen.
Professor Dr. Angelika Eggert ist Direktorin der Klinik für Pädiatrie mit dem Schwerpunkt Onkologie und Hämatologie an der Charité, Berlin und Standortsprecherin für Berlin im Deutschen Konsortium für Translationale Krebsforschung (DKTK). Darüber hinaus ist sie Mitglied im Direktorium des NCT Berlin, zusammen mit Professor Dr. Christof von Kalle (BIH-Chair und Direktor des Clinical Study Center von Charité und Berlin Institute of Health BIH), Professor Dr. Ulrich Keilholz (Direktor des Comprehensive Cancer Center der Charité) und Professor Dr. Lars Bullinger (Direktor der Medizinischen Klinik mit Schwerpunkt Hämatologie, Onkologie und Tumorimmunologie der Charité, Campus Virchow-Klinikum).
Das Interview führte Günter Löffelmann, München.
Erstveröffentlichung in der Medical Tribune am 24.1.2022: www.medical-tribune.de/medizin-und-forschung/artikel/eine-neue-dimension-der-krebsforschung/
Haben Sie auch das Gefühl, dass wir die Krise, in die uns das Corona-Virus gestürzt hat, allmählich in den Griff kriegen? Die Inzidenzrate ist moderat und die Belegung der Intensivbetten hält sich in Grenzen, weil rund drei Viertel der erwachsenen Bevölkerung geimpft sind (Hallo, letztes Viertel: Da geht noch was!). Also, alles gut und weiter, wie vor 2020? Bitte nicht! „Never let a good crisis go to waste“, empfahl schon der ehemalige Premierminister Großbritanniens Winston Churchill. Wir sollten uns diese Empfehlung dringend zu Herzen nehmen.
Pandemie legte Defizite offen.
Klar ist: Unser Gesundheitssystem war besonders im Hinblick auf Prävention und Datenverarbeitung in keinster Weise auf eine Pandemie-Situation vorbereitet. Man denke an die Defizite in der Bevorratung von Hygieneprodukten für den persönlichen Schutz; an die Gesundheitsämter, die Infektionen per Fax werktags an das Robert-Koch-Institut übermittelten; an die schleppende Nachverfolgung von Infektionsketten, an den Kommunikationswirrwarr zwischen den Bundesländern, oder an den stockenden Start der Impfkampagne. Und von den Tausenden Menschen, die mit oder an SARS-CoV-2 gestorben sind, sowie von den Hunderttausenden, die an Long COVID oder Post-COVID-Syndrom leiden, hat so mancher einen vermeidbaren Preis für unsere Defizite in Prävention und Informationsverarbeitung gezahlt.
Ganz ähnlich ist die Situation in der Onkologie. Mit rund einer halben Million Menschen, die jährlich neu an Krebs erkranken, und knapp einer Viertelmillion, die daran sterben, kann man auch hier von einer ‚Pandemie‘ sprechen. Und auch hier müssen wir langjährige Zögerlichkeiten in Prävention und Informationsverarbeitung mit massivem Aufwand auszugleichen versuchen – zum Beispiel durch hochtechnisierte Diagnostik und teure Therapien.
Reparatur im Bedarfsfall
Unser Gesundheitssystem ist auf die hektische Reparatur im Bedarfsfall angelegt; den Blick in die Zukunft, das Investment in die Vorsorge kennt es nicht. Es ist wie mit einem in die Jahre gekommenen Haus, bei dem jedes größere Unwetter das Wasser durchregnen und die Fenster schlagen lässt. Eigentlich sollte man über eine grundlegende Renovierung nachdenken und in nachhaltigen Gebrauch investieren. Stattdessen schmieren wir hier und da ein bisschen Gips und Farbe, und hoffen, dass der nächste Jahrhundertsturm erst in ein paar Hundert Jahren kommt.
Wie können wir unser Gesundheitssystem wetterfest machen, es also resilienter und nachhaltiger gestalten? Zunächst brauchen wir ein neues Denken, das sich nicht mehr im Stakeholder-Lobbyismus verzettelt und den kurzfristigen Ertrag gegenüber dem langfristigen Nutzen bevorzugt. Wir müssen, von potenziellen Katastrophen ausgehend, rückwärts denken, um sie zu verhindern. .
Krebserkrankungen sind solche Katastrophen, für den Einzelnen wie für die Gemeinschaft. Um diese Pandemie einzudämmen, benötigen wie eine Vision Zero in der Onkologie. Die Zahl der vermeidbaren krebsbedingten Todesfälle muss drastisch sinken, idealerweise gegen Null. Dafür müssen wir, darüber sind sich unsere Experten einig, vor allem in Digitalisierung und Prävention investieren. Vision Zero e.V. setzt sich daher für substanzielle Maßnahmen in diesen Bereichen ein und hat die ‚Berliner Erklärung‘ zur Digitalisierung und das Positionspapier zur HPV-Impfung erarbeitet – und als konkrete Handlungsmöglichkeit ein einheitliches Format für onkologische Datensätze vorgeschlagen, mit dem die Zusammenarbeit in Behandlung und Forschung im Sinne der Patienten entscheidend verbessert werden kann.
In den vergangen zwei Jahren haben wir schmerzlich erkennen müssen, wie wichtig Digitalisierung und Prävention sind, um eine Pandemie zu verhindern oder einzudämmen. Wenn es uns gelingt, diese Erkenntnis auch für die Krebspandemie umzusetzen, dann haben wir die Corona-Krise ganz im Sinne von Winston Churchill hoffentlich doch auch zu etwas Positivem nutzen können.
Professor Dr. Christof von Kalle ist Vorsitzender des wissenschaftlichen Beirats von Vision Zero.
Erstveröffentlichung des Beitrags in der Ärzte Zeitung vom 8.10.21
Herr Professor Kroemer, welche Chancen und Möglichkeiten ergeben sich durch die Digitalisierung unseres Gesundheitswesens?
Da muss man in zwei Richtungen sehen. Zum einen die Chancen für jeden Einzelnen von uns, und zum anderen die Chancen für die Gesellschaft. Fangen wir damit an, was ich als Patient oder Patientin davon habe: In einem digitalisierten System habe ich meine Gesundheitsdaten wohnortunabhängig bei mir und ständig verfügbar. Und ich würde sehr vieles, was heute als Zweituntersuchung läuft – und das nur, weil die Daten zwar da, aber nicht verfügbar sind –, nicht mehr machen müssen. Natürlich unter der Voraussetzung, dass das Dateneigentum bei den Patient:innen liegt. Wir würden es in anderen Bereichen niemals akzeptieren, dass man die Informationen, die man benötigt, als Brief bei sich führt. Aber das ist im Jahr 2021, wenn Sie ein bundesdeutsches Krankenhaus verlassen, die Realität.
Und welche Chancen sehen Sie gesamtgesellschaftlich?
Die Digitalisierung ist Motor für Fortschritt. Manche Erkrankungen können wir schon heute ohne die Verarbeitung großer Datenmengen gar nicht mehr nach dem Stand der Forschung behandeln. Lungenkrebs ist ein Beispiel, wo durch die zielgerichtete Therapie in den vergangenen Jahren viel erreicht wurde. Aber die Grundlage für zielgerichtete Therapien ist ein sinnvoller Umgang mit Gesundheitsinformationen. Wir haben in Deutschland allerdings das Phänomen, dass viele Patient:innen zwar bereit sind, ihre Daten zur Verfügung zu stellen, aber es eine sehr große Zurückhaltung gibt, dass diese auch kommerziell genutzt werden können…
… zum Beispiel durch die forschende Pharmaindustrie?
Ja. Da gibt es eine große Zurückhaltung, selbst bei vielen Erkrankten. Meines Erachtens müsste man darauf reagieren, indem man die Strukturen, in denen man die Daten hält, im öffentlichen Bereich lässt. Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen hat im März sein Gutachten zur Digitalisierung im Dienst der Gesundheit vorgelegt. Grundtenor: Eine sinnvolle Datennutzung ist hierzulande fast unmöglich.
Wo stehen wir in Deutschland?
Es ist eine Situation, die nur sehr schwer erträglich ist. Am deutlichsten sehen Sie das in der aktuellen Impfkampagne. Wir haben an der Charité 16.000 Mitarbeiter:innen geimpft und haben 16.000-mal einen handschriftlichen Eintrag in ein kleines gelbes Heftchen gemacht. Das ist vollkommen inakzeptabel, denn es bedeutet: Wir haben keinen digitalen Zugriff auf das Impfgeschehen.
Damit ist eine Impfkampagne wie in Israel, die sehr schnell eine hohe Durchimpfungsrate erreicht hat, gar nicht möglich?
Genau. Das, was Israel macht – nämlich online und in Echtzeit zu schauen, was bei der Kampagne herauskommt –, ist doch essenziell. Ich kann mir nicht vorstellen, dass irgendjemand etwas dagegen hat, dass die Tatsache, dass er oder sie geimpft ist, digital erfasst ist. Außerdem wäre allen geholfen, wenn man etwa Nebenwirkungen zeitnah erfassen könnte.
Ist die Pandemie ein Beschleuniger in Sachen Digitalisierung?
Ja, die Pandemie ist schon ein Trigger für vielfältige Initiativen – auch mit dem, was Gesundheitsminister Jens Spahn mit dem Krankenhausgesetz machen will. Wir tun sehr viel in die richtige Richtung. Aber wenn Sie das mit dem vergleichen, was andere Länder in dieser Hinsicht erreicht haben, ist das alles immer noch vollkommen inakzeptabel.
Wen meinen Sie mit anderen Ländern?
Schauen Sie sich den Digitalisierungsgrad in Skandinavien oder den Niederlanden an. Schauen Sie sich Länder an, die man gar nicht so auf dem Schirm hat, wie Spanien oder Estland. Dort ist die Gesundheitsversorgung schon sehr nachhaltig digitalisiert. Dort sind Krankenhäuser, die wie bei uns noch sehr papiergetrieben sind, gar nicht mehr denkbar.
Haben wir in Deutschland ein Umsetzungsproblem?
Das muss man zweigeteilt sehen. Die Dinge, die in Deutschland normalerweise sehr gut funktionieren, wie die stationäre Krankenversorgung, funktionieren auch in dieser Krise gut. Wenn wir aber die kleinste Kleinigkeit neu machen wollen – zum Beispiel jemanden an der Ecke impfen – kriegen wir das nicht mehr hin. Bei allem, was neu etabliert werden muss, haben wir ein fundamentales Umsetzungsproblem, und das unabhängig von der Größe des Unterfangens. Das gilt selbst für einfache Dinge wie zum Beispiel einen digitalen Impfpass, über den wir seit vielen Jahren diskutieren. Aber das Umsetzungsproblem ist nur ein Teil unseres Problems.
Was meinen Sie?
Wir haben in Deutschland komplexe Strukturen, die die Digitalisierung nicht wollen. Es fehlt auch der politische Wille. Schauen Sie in die USA: Dort hat man in nur zwei Jahren die Krankenhäuser digitalisiert. Dafür wurden ausreichend Ressourcen zur Verfügung gestellt, aber auch gesagt: Wenn ihr in zwei Jahren kein vernünftiges Krankenhausinformationssystem habt, könnt ihr nicht mehr abrechnen. Mit dieser Kombination von Zug und Druck sind die enorm schnell vorangekommen. An dem Verfahren gibt es auch Kritik, klar, aber sie haben viel erreicht. Bei uns hingegen gibt es in der Krankenhausfinanzierung kein Budget für Digitalisierung.
Wie bitte?
Nein. Ein durchschnittliches deutsches Krankenhaus gibt ein bis zwei Prozent seines Gesamtbudgets für digitale Aktivitäten aus. In den USA sind es zwischen sechs und sieben Prozent. In den Fallpauschalen ist so gut wie nichts für die Digitalisierung drin. Dafür sind die Länder zuständig, und die haben relativ wenig Geld.
Es scheint, in Deutschland werden vor allem die Risiken von Datennutzung betont. Nehmen wir zu wenig in den Blick, dass Datenschutz dazu führen kann, dass Patient:innen nicht so versorgt werden, wie das eigentlich möglich wäre?
Das ist eine Kernfrage: Wo zieht man vernünftige Grenzen des Datenschutzes, den man ja gerade bei persönlich sensiblen Gesundheitsdaten unbedingt braucht? Und den wir keinesfalls so auflockern wollen, wie das in China oder den USA der Fall ist. Leider hat sich die Datenschutzdiskussion ein Stück weit verselbstständigt und ist weit weg von der Frage, was man eigentlich Positives aus solchen Informationen machen kann. Hier müssen wir wieder in eine Balance kommen. Aber auch hier gilt: Datenschutz kostet. Datenschutz ist die untrennbare andere Seite der Medaille der Digitalisierung im Gesundheitswesen. Wenn ich das will, muss ich auch für eine entsprechende finanzielle Ausstattung der notwendigen Systeme sorgen. Das ist in Deutschland nicht passiert. Wir erhöhen die Anforderungen an den Datenschutz, stellen aber die notwendigen Ressourcen, um das umzusetzen, nicht zur Verfügung.
Aber vom Geld abgesehen: Würden Sie sagen, dass in der Debatte der Patientenschutz hinten runterfällt?
Die Patientenseite ist bisher wenig in die Diskussion mit eingeflossen. Das Bundesforschungsministerium hat im Bereich der Universitätsmedizin mit der Medizininformatik-Initiative ein paar Standards gesetzt. An den Diskussionen waren auch Patientenvertreter:innen beteiligt, die ein massives Interesse geäußert haben, Informationen zur Verfügung zu stellen – gerade im Bereich der öffentlichen Forschung. Wir brauchen einen vernünftigen Ausgleich zwischen berechtigten Datenschutzerwägungen und berechtigten Patientenschutzinteressen. Die Patientenseite ist in Deutschland sehr stark unterbetont.
Was passiert, wenn wir so weitermachen wie bisher?
Dazu habe ich eine klare Meinung. Denken Sie mal – Stichwort: Elektromobilität – sechs Jahre zurück. Die deutsche Automobilindustrie – als eine weltweit anerkannte Leitindustrie – verschläft den Technologiewandel und vor den Toren Berlins entsteht ein Werk der US-Firma Tesla. Es ist im Grunde die Umsetzung eines Technologievorsprungs. Ich bin fest überzeugt: Wenn wir uns im Bereich der Digitalisierung der Medizin nicht bewegen, erleben wir in Deutschland so etwas wie eine Teslaisierung des Gesundheitswesens.
Erklären Sie das bitte genauer.
Damit meine ich, dass digital aufgestellte Anbieter, die in den USA und auch China mittlerweile sehr stark vertreten sind, ihre Produkte bei uns anbieten werden. Folglich wird genau das Gleiche passieren, was der Autobranche droht: Wenn wir uns nicht ändern, werden wir zwar möglicherweise noch die Hardware herstellen, aber das technologische Herz werden wir einkaufen müssen. Auf das Gesundheitswesen übertragen heißt das: Wir haben noch die Krankenhäuser. Die Innovationen müssen wir allesamt einkaufen. Das können wir auf keinen Fall wollen.
Die Datensammlungen, die überall genutzt werden, nur bei uns nicht, geben diesen Anbietern die Möglichkeit, ableitbare Informationen zu Krankheitsverlauf und Behandlungsstrategien zu verkaufen. Damit nehmen sie deutschen Unternehmen einen Kern ihres Geschäfts weg. Schauen Sie sich eine Apple Watch an. Da legen Sie Ihren Finger auf die Krone, leiten ein EKG ab und bekommen eine zertifizierte Diagnose, ob Sie ein Vorhofflimmern haben – eine der häufigsten Herzrhythmusstörungen älterer Patient:innen. Denken Sie das zehn Jahre weiter: Was man mit dieser Sensorik so alles machen kann. Wenn wir da technologisch mitspielen wollen, müssen wir uns bewegen. Und zwar jetzt.
Die Pandemie hat einiges aufgebrochen. Leiten Sie daraus die Hoffnung ab, dass davon auch etwas verstetigt wird?
Die Hoffnung habe ich. Denn die Erfahrung dieses in Teilen fundamentalen Nichtfunktionierens großer Systeme wird in Deutschland Veränderungen anstoßen. Wir werden nach der Pandemie im Sinne von „Lessons Learned“ sehen, dass viele der menschlichen und auch wirtschaftlichen Schäden, die entstanden sind, bei einer besseren Aufstellung in Teilen vermeidbar gewesen wären. Deshalb gehe ich davon aus, dass das Konsequenzen hat.
Sie haben noch Hoffnung…
Wenn das politisch wirklich gewollt würde und man es fachlich unterstützt begleitet, würden wir den Nachholbedarf, den wir haben, mit Sicherheit schnell und erfolgreich hinbekommen. Aus meiner Sicht ist das auch ohne Alternative. Schauen Sie sich an, was in den kommenden Jahren allein als demografischer Wandel auf uns zukommt: Da werden wir ohne eine Digitalisierung überhaupt nicht durchkommen.
Das Interview führte Florian Martius.
Professor Dr. Heyo K. Kroemer ist Pharmazeut und Pharmakologe. Er leitet als Vorstandsvorsitzender das größte deutsche Universitätsklinikum, die Charité in Berlin, und ist unter anderem Mitglied des Vorstands des Verbandes der Universitätsklinika Deutschlands e.V.
Herr Professor Pfundner, warum brauchte es ein Positionspapier zur Digitalisierung in der Medizin?
Ich glaube, dass die Diskussion dazu und zur Nutzung von Gesundheitsdaten im Besonderen derzeit etwas eindimensional geführt wird – fast immer im Hinblick auf Datenschutz und entsprechende Restriktionen, selten im Hinblick auf die Chancen.
Die da wären?
Der Umgang mit Gesundheitsdaten ist zumindest für die forschenden Arzneimittelunternehmen im Grunde genommen nichts Besonderes. Wir arbeiten seit über 100 Jahren mit individualisierten Patientendaten, versuchen daraus Erkenntnisse zu gewinnen und Arzneimittel zu entwickeln. Neu ist – und darin liegen große Chancen –, dass wir heute durch Algorithmen und künstliche Intelligenz sehr große Datenmengen verarbeiten und analysieren können und dass wir dies nicht mehr nur mit Daten aus kontrollierten klinischen Studien, sondern auch aus der Routinebehandlung machen können. Wir nennen das wissengenerierende Forschung oder wissengenerierende Versorgung. Weil hier Wissen aus großen, bislang nicht verarbeitbaren Datenmengen entsteht, das dann wieder dem einzelnen Patienten zugutekommt. Die Berliner Erklärung ist notwendig geworden, um die bisherige Eindimensionalität der Diskussion aufzubrechen und den Blick auf solche Aspekte zu lenken.
Kurz zusammengefasst, was steht in der Berliner Erklärung?
Wir haben darin die aus unserer Sicht wichtigsten Handlungsfelder definiert, um den Ausbau der Digitalisierung in der Medizin voranzubringen. Dazu gehört unter anderem, dass die Verantwortlichen den gesetzlichen Rahmen entwickeln, um Gesundheitsdaten unter Wahrung des Datenschutzes bestmöglich zu nutzen; dass sie Wege finden, mit denen die Selbstbestimmung der Patient:innen gewahrt bleibt; dass sie eine Infrastruktur etablieren, die die Erfassung, Speicherung und Nutzung von Gesundheitsdaten flächendeckend und EU-kompatibel erlaubt; dass sie regeln, wie sowohl öffentliche als auch privatwirtschaftliche Einrichtungen und Unternehmen Zugang zu diesen Gesundheitsdaten erhalten und damit forschen können; und dass sie in der Öffentlichkeit Vertrauen aufbauen, sodass Bürger:innen der Nutzung von Gesundheitsdaten guten Gewissens zustimmen können.
Papier ist geduldig …
Deswegen machen wir nicht bei den Forderungen halt, sondern wollen künftig auch ganz konkrete Angebote entwickeln. Ein großes Problem bei der Erfassung, Speicherung und Nutzung von Daten ist beispielsweise, dass es aktuell keine gemeinsame Datensprache in Deutschland gibt. Daten aus Forschungsprojekten, Registern usw. sind oft von ganz unterschiedlicher Formatierung. Auch wie Daten erhoben werden, unterscheidet sich häufig. Die Folge ist, dass manche Daten fehlen, andere selbst bei Projekten mit vergleichbaren Fragestellungen nicht untereinander ausgetauscht werden können. Wir entwickeln daher ein skalierbares Datenformat für onkologische Datensätze. Unserer Ansicht nach kann es für alle Einrichtungen, die sich mit onkologischen Fragestellungen beschäftigen, zum Standard werden – von der Universitätsklinik über das Krankenhaus bis hin zu den versorgenden Einrichtungen in der Fläche und, nicht zuletzt, den forschenden pharmazeutischen Unternehmen. Diese gemeinsame Datensprache soll den Austausch von Daten in der Grundlagenforschung, in der translationalen Forschung und in der Versorgungsforschung ermöglichen.
Rechnen Sie angesichts der bisherigen Heterogenitäten mit Widerständen?
Wir müssen allen Playern klarmachen, was jetzt wichtig ist, nämlich in die Zukunft zu schauen, sich zu fragen, was wir wirklich brauchen, und sich auf eine Richtung zu einigen. Partikularinteressen müssen dann auch mal zurückstehen, sonst passiert nichts. Und wir brauchen einen Rahmen, der uns ein effizientes Vorgehen ermöglicht. Das betrifft zum einen die Finanzierung, zum anderen könnte man auch über gesetzliche Regelungen nachdenken.
Woran denken Sie?
Ich will dazu ein Beispiel nennen: Die USA haben unter der Präsidentschaft von Barack Obama die Einführung der elektronischen Patientenakte massiv durch ein Gesetz beschleunigt. Damals hieß es, wer innerhalb von zwei Jahren nicht an dieser Plattform andockt, kann keine Leistungen mehr abrechnen. Nach zwei Jahren hatten 98 Prozent der Leistungserbringer auf das System umgestellt
Was würden Sie denn der neuen Bundesregierung gerne mit auf den Weg geben?
Was alles gemacht werden muss, ist eigentlich klar. Die große Frage ist, wie erreichen wir das? Womit fangen wir an? Bei wem fangen wir an? Was ist der finanzielle Bedarf? Wie konzertieren wir Maßnahmen? Unser Angebot ist es, dazu einen interministeriellen Dialog aufzusetzen. Die Digitalisierung in der Medizin ist ein übergreifendes Thema. Wir brauchen das Wirtschaftsministerium für die Wertschöpfungskomponenten, das Gesundheitsministerium für die Versorgungsaspekte, das Forschungsministerium für die translationalen Aspekte und wir brauchen ein Ministerium, das für die infrastrukturellen Belange zuständig ist.
Ist überall dort angekommen, dass wir mit der Digitalisierung vorankommen müssen?
Dafür haben die vergangenen eineinhalb Jahre gesorgt. In der Corona-Krise waren wir wie der Typ in der Schule, der seine Hausaufgaben nicht gemacht hat, in der hintersten Reihe vor sich hindämmert und am großen Geschehen keinen Anteil hat. Wir hatten zwar die Technologie, Tests, Impfstoffe und Arzneimittel, aber das aus der Versorgung heraus entstehende Wissen, das hatten wir nicht. Wir mussten Daten einkaufen, aus Israel, aus England, aus den USA. Mittlerweile ist daher jeder und jedem klar, welches Potenzial wir verschenken, wenn wir die Digitalisierung weiter vernachlässigen.
Bleibt noch die Gesellschaft als Ganzes. Wird sie mitspielen, wenn es um die Nutzung von Gesundheitsdaten geht?
Ich denke, wir sollten mal versuchen, uns von der notorischen „German Angst“ freizumachen. Das, was uns bremst, sind immer wir selbst – indem wir jeden Fortschritt, jede Technologie von vorneherein auseinandernehmen und zu einem Zeitpunkt hundertprozentige Klarheit haben wollen, zu dem dies einfach nicht möglich ist. Wenn wir so fortfahren wie bisher, wird der Fortschritt woanders stattfinden, werden Technologien woanders entwickelt – und wir müssen sie dann teuer einkaufen. Für den Wissenschafts- und Wirtschaftsstandort Deutschland käme das einer Kapitulation gleich.
Das Interview führte Günter Löffelmann.
Prof. Dr. Hagen Pfundner ist Vorstand der Roche Pharma AG in Deutschland und Mitglied im Strategiekreis der Nationalen Dekade gegen Krebs
Was sind aus Ihrer Sicht die zentralen Aussagen des SVR-Gutachtens?
Prof. Wolfgang Greiner: Eine der wichtigsten Kernaussagen des Gutachtens ist, dass das Leben und die Gesundheit der Menschen in Deutschland besser geschützt werden könnten, wenn die Möglichkeiten der Digitalisierung im Gesundheitswesen noch konsequenter und umfänglicher genützt würden. Das Gesundheitswesen sollte dazu auf ein digitales und systematisch lernendes Gesundheitssystem umorientiert werden. Dazu sollte mit geeigneten technischen Maßnahmen, mit empfindlichen Strafandrohungen und wirksamen Kontrollen die Datensicherheit gestärkt und zugleich Möglichkeiten geschaffen werden, Daten für gezieltere Forschung und Versorgung zu nutzen. Im Gutachten haben wir konkrete Empfehlungen zur Ausgestaltung der elektronischen Patientenakte (ePA), zur kontrollierten Nutzung von Gesundheitsdaten für die Forschung, zur Nutzung und Kostenerstattung von digitalen Gesundheitsanwendungen sowie zur Steigerung digitaler Gesundheitskompetenz in den Heilberufen wie auch bei den Bürgerinnen und Bürgern gegeben.
Hat die Pandemie die Aufmerksamkeit für das Thema Digitalisierung erhöht? Haben die politischen Entscheidungsträger erkannt, welche zentrale Bedeutung das Thema hat?
Greiner: In der Corona-Pandemie hat sich gezeigt, wie wichtig es wäre, Gesundheitsdaten wie eine nachgewiesene Ansteckung mit Bewegungs- und Kontaktdaten verknüpfen zu können, um zu erkennen, welche Situationen im Sinne von Infektionsketten wirklich risikoreich sind. Mit diesem Wissen könnten Maßnahmen zur Eindämmung viel gezielter sein. Ob dieser Zusammenhang in allen politischen Lagern schon vollständig erkannt ist, ist schwer zu beurteilen. Sicher ist aber, dass die Bedeutung einer umfassenden Digitalisierung für nachhaltige Bildungschancen und die Funktionsfähigkeit der Volkswirtschaft überdeutlich geworden ist. Zu den strukturellen Rahmenbedingungen einer solchen umfänglichen Digitalisierung gehört der weitere Ausbau leistungsstarker, flächendeckender Internetverbindungen. Das würde dann auch der weiteren Digitalisierung im Gesundheitsbereich nützen.
Müssen wir nicht viel mehr als bisher versuchen, die Menschen von den Fortschritten zu überzeugen, die in der Digitalisierung stecken?
Greiner: Entscheidend ist sicher, dass die Bürgerinnen und Bürger praktisch erfahren, welche Potentiale die Digitalisierung im Gesundheitsbereich für jede und jeden bedeutet. Nicht alle Bevölkerungsgruppen können dabei gleich gut erreicht werden. Um die digitale Gesundheitskompetenz der Bevölkerung zu fördern, müssen eine Reihe von Voraussetzungen erfüllt sein wie ein niederschwelliger Zugang, zielgruppenspezifische Angebote und die Teilhabe der Zielgruppe an der technischen Entwicklung. Erforderlich ist zudem, das Angebot und die Qualität digitaler Gesundheitsanwendungen transparenter zu machen und Angehörige aller Gesundheitsprofessionen dazu in die Lage zu versetzen, qualitätsgesicherte digitale Gesundheitsangebote zu empfehlen.
„Daten heilen“, heißt es plakativ. Verlieren wir in Deutschland wissenschaftlich den Anschluss, wenn wir die Digitalisierung verschleppen?
Greiner: Schon heute besteht ein Großteil der medizinischen Forschung in der Analyse von Daten, die z.B. in Registern, Biobanken oder wissenschaftlichen Studien erhoben werden. Im Idealfall stehen für die Forschung alle diese Informationen zeitnah, vollständig und sinnvoll aufbereitet zur Verfügung. Während Gesundheitsdaten heute primär für administrative Zwecke genutzt werden – wie die Krankenkassendaten zu Abrechnungszwecken – würden sie dann vor allem der Verbesserung der gesundheitlichen Versorgung und der kontinuierlichen Qualitätsverbesserung dienen.
Derzeit nutzen wir vielfach ausländische Datensammlungen, um Fragen der Versorgungsforschung beantworten zu können. Dieser Zustand ist mehr als unbefriedigend und angesichts der Möglichkeiten, die sich wissenschaftlich mit Daten aus dem spezifischen deutschen Versorgungskontext ergeben könnten, kaum hinnehmbar.
Wo sind uns unsere Nachbarn voraus und was sollten wir daraus lernen?
Greiner: Insbesondere Dänemark, Estland und Schweden gelten als Vorreiter der Digitalisierung. In diesen Ländern werden elektronische Aktensysteme umfassend genutzt und weisen zudem in großem Umfang medizinische Informationen auf. In Dänemark z.B. gibt es eine lange Tradition zur elektronischen Dokumentation bei den Leistungserbringern sowohl im ambulanten als auch im stationären Sektor. Der Informationsaustausch der Ärztinnen und Ärzte, seien es Laborergebnisse, Arztbriefe oder Verordnungen, erfolgt sektorenübergreifend überwiegend elektronisch.
Inzwischen werden – zusätzlich zum Datenschutzbeauftragten – Forderungen nach einem „Patientenschutzbeauftragen Patienten laut. Ist das zielführend?
Greiner: Auf Landes- und Bundesebene sind bereits Beauftragte für die Belange der Patientinnen und Patienten etabliert worden. Deren Aufgabenbereiche sind recht weit gefasst und sollten auch die hier angesprochenen Fragestellungen umfassen. Zudem sind die Datenschutzbeauftragten gerade im Gesundheitsbereich intensiv tätig. Ich sehe aus diesem Grund hier keine relevante Lücke, die durch eine weitere Institution wie einen Patientenschutzbeauftragten ausgefüllt werden müsste.
Alle patientenbezogenen Daten sollten in einer Datenbox beim Patienten sein – wie können wir dieses Ziel erreichen?
Greiner: Die elektronische Patientenakte (ePA), die derzeit eingeführt wird, könnte zu diesem Ziel langfristig beitragen und durch den zeitnahen Zugang zu strukturierten und konsistenten Informationen eine bedarfsgerechte und koordinierte Versorgung ermöglichen. Der oder die Versicherte sollte die Möglichkeit haben, der Einsichtnahme durch Leistungserbringer zu widersprechen – die so genannte „Verschattung“ von ePA-Inhalten. Zentral für den Erfolg oder Misserfolg der ePA in Deutschland wird die ausreichende Zahl der aktiv Nutzenden sein, da nur dann Leistungserbringer routiniert damit arbeiten können und die notwendigen Investitionen in die Infrastruktur gerechtfertigt wären. Das für die Implementierung in 2021 bzw. ab 2022 vorgesehene mehrfache Opt-in-Verfahren, birgt u. a. aufgrund des Aufwands das Risiko, dass eine so grundlegende Leistung der Gesundheitsversorgung mit all ihren Potenzialen und Chancen von zu wenigen genutzt wird. Im Gutachten haben wir Vorschläge gemacht, wie eine sinnvollere Lösung aussehen könnte.
Wenn die Digitalisierung der Medizin der Schlüssel für eine signifikant bessere Versorgung ist, müssen wir dann nicht schneller agieren und eine interdisziplinäre „task-force“ einrichten?
Greiner: Derzeit entwickelt die Gesundheitspolitik das Thema Digitalisierung sehr dynamisch weiter. Seit 2019 sind eine ganze Reihe von Gesetzen beschlossen worden, die sich diesem Thema gewidmet haben. Selbst die Corona-Pandemie hat diese Aktivität nicht zum Erliegen gebracht. Zudem wurde im Gesundheitsministerium ein Health Innovation Hub (hih) eingerichtet, der sich als Think Tank für das Ministerium und seinen nachgeordneten Behörden sowie als Anlaufstelle für die wesentlichen Stakeholder des deutschen Gesundheitswesens versteht, dessen Tätigkeit allerdings plangemäß Ende des Jahres 2021 endet. Die neue Bundesregierung sollte nach der Wahl erwägen, eine ähnliche Arbeitsgruppe wiederzubeleben, um den derzeitigen Schwung der Reformmaßnahmen für eine Digitalisierung des Gesundheitswesens nicht zu verlieren.
Was sollte die medizinisch-technische und die biomedizinische Industrie an Assets, Engagement und Ideen einbringen?
Greiner: Auch für forschende Unternehmen ist die fortschreitende Digitalisierung im Gesundheitswesen mit Chancen verbunden, die das bisherige Forschungsspektrum wesentlich erweitern. So sind Daten aus dem Behandlungskontext für die Überführung von Ergebnissen aus der Grundlagenforschung in neue präventive, diagnostische und therapeutische Verfahren, die sogenannte Translation, eine unerlässliche Voraussetzung. Auch die Forschung im Bereich der stratifizierten Medizin, die anhand spezifischer Eigenschaften von Krankheitsbildern einzelner Patientengruppen auf die genauere Abstimmung von Therapiemöglichkeiten zielt, ist auf große Datenmengen angewiesen. Neue technische Möglichkeiten im Bereich der Diagnostik, z.B. bei der genetischen oder molekularen Auswertung von Biomaterialen, können mehr Informationen über den einzelnen Patienten/die einzelne Patientin sowie über das Krankheitsbild generieren. Zusammengeführt können die Daten Vieler der Entwicklung stratifizierter Therapiemöglichkeiten für Subgruppen von Patientinnen und Patienten mit gleichen Merkmalen dienen.
Genau davor haben viele Menschen auch Angst – Stichwort: Datenmissbrauch…
Greiner: Bei einer entsprechenden Nutzung von Gesundheitsdaten muss selbstverständlich immer mitgedacht werden, dass es um besonders sensible Daten handelt. Sie betreffen sehr Persönliches, Intimes, und können in den falschen Händen zur Stigmatisierung, Diskriminierung, Benachteiligung, Erpressung oder zu sonstiger Bedrängung der Person führen. Eine verstärkte Nutzung in der Forschung erfordert daher in jedem Fall, kontinuierlich mit geeigneten technischen Maßnahmen, mit empfindlichen Strafandrohungen und wirksamen Kontrollen die Datensicherheit zu gewährleisten.
Prävention und Früherkennung kosten Geld, sind aber in Deutschland unterfinanziert. Das deutsche Gesundheitssystem ist eher Reparaturbetrieb. Hat das Zukunft?
Greiner: Man kann nicht generell sagen, dass Prävention und Früherkennung in Deutschland unterfinanziert sind, denn es fehlt derzeit noch an einem umfassenden Überblick, was von dem Erreichbaren in diesem Bereich wirklich umgesetzt wird und wieviel ggf. tatsächlich an fehlender Finanzierung scheitert. Umgekehrt gibt es auch Hinweise, dass ein nennenswerter Teil der Präventionsbemühungen wenig evidenzbasiert ist und vor allem nicht bei denjenigen Bevölkerungsgruppen ankommt, die potentiell am meisten davon profitieren würden. Aber auch in diesem Feld kann die Verwendung digitaler Technologien wie der elektronischen Patientenakte wertvolle Hilfestellungen leisten, z.B. können gefährdete Bevölkerungsgruppen besser identifiziert und geeignete Behandlungsoptionen angeboten werden. Sie ermöglichen mit kurzem Vorlauf Analysen, auf deren Ergebnisse z.B. der Öffentliche Gesundheitsdienst umgehend reagieren kann, um passgenaue regionale Präventionsangebote auszuarbeiten. Hätte es während der COVID-19-Pandemie flächendeckend eine ePA gegeben, hätte diese ggf. für ein zielgerichteteres Screening und einen koordinierteren Ablauf von Testungen genutzt werden können.
Frau Biermann, wie geht es Ihnen heute?
Michaela Biermann: Ich habe die Krebserkrankung überstanden, bin verheiratet, habe zwei gesunde Kinder und arbeite in meinem neuen Beruf als Kauffrau für Groß- und Außenhandel im Innendienst eines Hamburger Unternehmens. Es geht mir gut.
Vor 14 Jahren sah Ihre Welt anders aus.
Das kann man wohl sagen, sie ist damals für mich zusammengebrochen. Ich hatte gerade meinen Mann kennengelernt, war auch schon in der elften Woche schwanger, als es bei der Früherkennungsuntersuchung für Gebärmutterhalskrebs einen auffälligen Befund gab. Die Frauenärztin hat den Abstrich dann wiederholt und in ein anderes Labor geschickt – selbes Ergebnis. Nach der Biopsie war dann klar: Ich habe
Krebs, ein Adenokarzinom. Der Arzt saß mir gegenüber, hatte selber Tränen in den Augen, und sagte: ‚Der Krebs hat wahrscheinlich schon in die Gebärmutter gestreut, ich gebe Ihnen noch fünf Monate.‘ Das saß. Ich war seit dem 16. Geburtstag immer bei der Vorsorgeuntersuchung. Warum also ich? Mit 29! Warum in der Schwangerschaft?
Wie ging es dann weiter?
Zunächst hieß es: Schwangerschaftsabbruch und Gebärmutter raus. Aber ich bin eine Kämpferin, ich sagte mir, das kann nicht alles sein. Und wir haben dann auch eine andere Lösung gefunden. In der 13. Schwangerschaftswoche wurde eine Konisation gemacht, der Tumor und 23 Lymphknoten entfernt. Zum Glück waren alle frei von Tumorzellen. Danach haben wir engmaschige Kontrollen gemacht und meine Tochter in der 34. Woche als Frühchen zur Welt gebracht. Der nächste Schock war, dass sie auf der Intensivstation mehrmals intubiert werden musste, eine Überdruckbeatmung brauchte usw., das ganze Programm. Was mich anbelangt, so sollte sechs Wochen später eigentlich die Gebärmutter entfernt werden. Wir entschieden uns aber zu einer Trachelektomie, einer Teilentfernung des Gebärmutterhalses, bei der die Fertilität erhalten bleibt.
Sie wollten noch ein Kind?
Ein Vierteljahr später war ich wieder schwanger, dieses Mal mit einem Jungen. Er kam dann per Kaiserschnitt zur Welt, und dieses Mal war ich einverstanden damit, die Gebärmutter zu entfernen. Dann entschied sich aber der Arzt dagegen, und sagte: ‘Übertherapien wollen wir Sie auch nicht.‘ Operiert werden musste ich trotzdem nochmal, da ich postoperativ ein Lymphödem im linken Bein hatte.
Wie haben Sie das alles geschafft?
Wir waren damals zwar erst sehr kurze Zeit zusammen, aber mein Mann hat mich sehr unterstützt und mir Kraft gegeben. Und ich dachte mir, wenn ich in Selbstmitleid verfalle
und die ganze Zeit heule, dann hilft das auch nicht. Ich habe mir dann die positiven Sachen gesucht. Wir wollten heiraten, also habe ich mich in die Hochzeitsvorbereitungen gestürzt. Ich kam gar nicht dazu, mich mit dem Krebs zu beschäftigen. Sechs Monate nachdem wir uns kennengelernt hatten, haben wir standesamtlich geheiratet, genau an unserem Jahrestag auch noch kirchlich. Da habe ich auch wieder
die ganze Organisation übernommen, das hat mir sehr gutgetan. Und ich wusste, ich schaffe es.
Was denken Sie, hätten Sie sich als Jugendliche impfen lassen, wenn es diese Möglichkeit schon gegeben hätte?
Auf jeden Fall, ich habe alle Impfungen, mein Impfpass ist lückenlos. Auch unsere beiden Kinder – die Tochter ist jetzt dreizehneinhalb, der Sohn zwölfeinhalb – sind gegen HPV geimpft, beide im Alter von zehn Jahren. Wir haben sie damals gefragt, ob sie die Impfung machen lassen wollten. Sie kannten ja die ganzen Hintergründe, und unsere Tochter sagte sofort: ‚Klar, mache ich!‘ Lediglich unser Sohn hatte
anfänglich Zweifel, der meinte, er könne das doch gar nicht kriegen. Dann haben wir ihm erklärt, dass er auch HPV-Träger sein kann und einmal seine Freundin oder Frau anstecken kann und die dann möglicherweise Krebs kriegt. Dann war auch er einverstanden und sagte: ‚Komm Mama, die zwei Pikser tun nicht weh, ich mach das auch.‘
Raten Sie Ihren Bekannten zur HPV-Impfung?
Im engeren Freundeskreis schon, gerade als die Kinder in dem Alter damals waren. Da habe ich schon gesagt, dass man sich ja schützen kann. Einige haben die HPV-Impfung machen lassen, andere auf Durchzug geschaltet.
In Deutschland sind im internationalen Vergleich relativ wenige Mädchen geimpft, Jungen sowieso nur seltenst. Was glauben Sie, woran das liegt?
Das Thema wird, glaube ich, nicht ernst genug genommen. Es wird auch wenig Werbung dafür gemacht. Man muss da im Grunde genommen selber draufkommen, auf dem Tablett wird es einem nicht gerade serviert.
Was müsste aus Ihrer Sicht passieren, dass mehr Jugendliche gegen HPV geimpft werden?
Also, ich würde sagen, die Ärzte müssten mehr aufklären. Das sollte beim Kinderarzt schon anfangen. Der Kinder arzt stellt ja das Impfbuch aus, informiert über Tetanus und Diphtherie usw., und wenn man nach Bayern fährt, heißt es: ‚Da sollten Sie Ihre Kinder aber gegen FSME impfen lassen‘. Aber über die HPV-Impfung habe ich bei unserem Kinderarzt nie etwas gehört. Bei mir war es der Frauenarzt, der mich auf das Thema ansprach. Der sagte irgendwann: ‚Die Kinder sind soweit, wollen Sie sie impfen lassen?‘ Die Frauenärzte wissen ja, wann ihre Patientinnen entbunden haben. Dann können sie auf das Alter der Kinder schließen und das Thema beispielsweise bei der Vorsorgeuntersuchung ansprechen.
Was halten Sie von Aktionen an Schulen?
Meines Erachtens müsste man das schon in der Grundschule machen, da sind die Eltern noch sehr präsent. In den weiterführenden Schulen kommen die Eltern immer seltener zu den Elternabenden. Daher, glaube ich, ist es vergebene Liebesmüh das Thema auf einem Elternabend an einer weiterführenden Schule noch groß anzubringen. Aber in dem Alter kann man auch auf die Jugendlichen selber zugehen, in Sportvereinen, in Schwimmbädern, in der Tanzschule usw., dort Flyer auslegen oder auch Veranstaltungen anbieten.
Was sagt eigentlich der Arzt, der Sie damals betreut hat, zu Ihrer Geschichte?
Dass der Weg, den ich gegangen bin, schon ziemlich einmalig ist; mit einer Konisation und Lymphknotenentfernung in der Schwangerschaft, hinterher mit einer Trachelektomie und dann noch einer Schwangerschaft. Ich fahre normalerweise immer noch jährlich zur Vorsorgeuntersuchung zu ihm in die Klinik und nehme meinen Mann und die Kinder mit. Er hat sie ja zur Welt gebracht, und nun sind sie schon
fast so groß wie er. Ich glaube, das ist auch für einen Arzt ein ganz tolles Erlebnis.
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